Kunst im limitierten Leben

 

Nichts

Ich stehe vor der Praxis. Ich zittere. Ich hoffe auf diesen Arzt.
Ich bin krank. Seit Jahren. Seit dem Virus. Seitdem bin ich erschöpft, schmerzhaft, krank.
Ich war bei vielen Ärzten. Sie haben mir nicht geholfen. Sie haben mir nicht geglaubt.
Ich habe recherchiert. Ich habe eine Krankheit gefunden: ME/CFS.
Ich habe andere gefunden wie mich.


Ich klingele an der Tür. Ich trete ein. Der Arzt sitzt hinter seinem Schreibtisch. Der Schreibtisch ist weiß. Der Arzt ist weiß. Er lächelt nicht.


Arzt: Was führt Sie zu mir?
Ich: Ich bin krank.
Arzt: Wovon?
Ich: Von Müdigkeit. Von Schmerzen. Von 140 Symptomen.
Arzt: Müde sind viele. Das ist kein Grund zum Arzt zu gehen.
Ich: Doch.
Arzt: Warum?
Ich: Weil es nicht normal ist.
Arzt: Was ist nicht normal?
Ich: Die Müdigkeit.
Arzt: Wie ist sie?
Ich: Extrem. Mit Schmerzen. Mit 140 Symptomen. So extrem, dass ich nicht mehr leben kann.
Er schweigt. Ich schweige. Er nimmt eine Akte vom Schreibtisch. Sie ist groß und enthält viele Blätter, schwarz auf weiß. Von Neurologen, Kardiologen, Endokrionologen, Gynäkologen, Pneumologen, Nephrologen und weiteren Logen. Er öffnet sie.
Arzt: Sie haben mir Ihre Vorbefunde geschickt.
Ich: Ja.
Arzt: Ich habe sie mir angesehen.
Ich: Und?
Arzt: Und nichts.
Ich: Wie nichts?
Arzt: Es ist alles in Ordnung. Ein bißchen Übergewicht. Zu wenig Bewegung. Ein paar Kleinigkeiten. Sonst nichts.
Ich spüre einen Schlag in meinem Kopf. Sein Gesicht ist braun, meines weiß. Er sagt mir, dass ich gesund bin. Dass ich nichts habe. Dass ich lüge.
Ich: Das kann nicht sein.
Arzt: Doch, das kann sein. Die Zahlen lügen nicht. Die Wahrnehmungen lügen schon. Und Menschen lügen.
Er legt seine Hand auf einen Stapel mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.
Er sieht mich an. Er sieht mich nicht an. Er sieht etwas anderes. Er sieht etwas Falsches.
Arzt: Sie sind psychisch krank.
Er sagt mir, dass ich mir alles einbilde. Dass ich nichts fühle. Dass ich nichts bin.
Er steht auf. Er geht zur Tür. Er öffnet sie.
Arzt: Bis zum nächsten Mal.
Ich stehe auf. Ich gehe zur Tür. Ich öffne sie.
Ich: Auf Wiedersehen.


Er schließt die Tür. Ich gehe hinaus. Ich gehe auf die Straße. Ich spüre Schmerzen in meinem ganzen Körper. Sie sind unerträglich. Sie sind real. Aber ich glaube ihnen nicht mehr. Ich glaube mir nicht mehr. Ich glaube nichts mehr.
Ich gehe weiter. Ich kann kaum gehen. Ich gehe trotzdem. Ich gehe weg von ihm. Ich gehe weg von mir. Ich gehe weg von allem. Ich sehe alles verschwommen. Ich sehe nichts klar.

Ich frage mich, ob er recht hat. Ob ich wirklich psychisch krank bin. Ob ich wirklich eine Wahrnehmungsstörung habe.

Ob ich wirklich etwas fühle, das nichts ist.
Ob ich wirklich nur nichts fühlen sollte.
Ob ich wirklich fühlen sollte, dass ich nichts bin.

Text: Judith de Gavarelli

 

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